Politik 10.10.03
Zehn Punkte zur sozialpolitischen Standortbestimmung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen
Günter Mosen

Unter den engagierten Verbänden der Wohlfahrtspflege gibt es wenig Zweifel darüber, daß das, was in Berlin offiziell „Umbau des Sozialstaates“ genannt wird, in Wirklichkeit sein Rückbau ist. Es ist an der Zeit, daß wir dazu Stellung beziehen.
  1. Mein Welt- und Menschenbild verpflichtet mich zu einer engagierten Sozialpolitik. Eine solche Politik ist selbstverständlich von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Aber sie darf nicht in dem Sinne abhängig sein, daß sie wie ein Thermometer je nach Fiebergrad der Wirtschaft einmal sinkt und das andere Mal steigt. Sozialpolitik muß verläßlich und kontinuierlich sein. Deshalb steht für mich die Aufforderung aus dem Kirchenpapier nach wie vor als aktuelle Leitlinie meines Handels: „Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird.“[1] externer Link

  2. Ich trete dafür ein, daß vor allem die private Erwerbswirtschaft ihre Pflicht erfüllen muß, Arbeitnehmer mit Behinderungen einzustellen. Die Beibehaltung der auf 5% abgesenkten Pflichtquote halte ich für ein sozialpolitisch falsches Signal. Es reiht sich aber ein in die Politik der Bundesregierung, Unternehmen Steuererleichterung und finanzielle Entlastung zu gewähren, während für Kranken- und Rentenversicherte die Belastungen steigen. Ich vertrete den Standpunkt, daß nur eine Bevölkerungsgruppe nachhaltig neue Arbeitsplätze schaffen kann: die Arbeitgeber, die öffentlichen und privaten Unternehmer. Für mich gilt gleichermaßen, daß alle Erwachsenen, die mit ihrer Behinderung ganz oder teilweise erwerbstätig sein können, auch in der Erwerbswirtschaft einen Platz finden müssen.

  3. Ich bin für ein differenziertes Angebot an Arbeitsmöglichkeiten für alle Erwachsenen, die ihrer Behinderung wegen den Anforderungen der Erwerbswirtschaft nicht standhalten können. Zu diesem Angebot gehören für mich auch solche Integrationsfirmen, die nicht vorrangig privatwirtschaftliche Gewinnerzielungsabsichten verfolgen, sondern für die die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher und gemeinnütziger Ziele erstrangig ist. Dabei unterscheide ich zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Integrationsprojekten: einerseits denen, die zu den Unternehmen der Erwerbswirtschaft gehören und aufgrund dessen auch Teil der erwerbswirtschaftlichen Gewinnziele sind; andererseits denen, deren Belegschaft sich zu mindestens fünfzig Prozent aus Menschen mit Behinderungen zusammensetzt, deren wirtschaftliches Ergebnis vorrangig der Gesamtbelegschaft zugute kommt und die sich den strengen Anforderungen und Regeln der Gemeinnützigkeit unterwerfen. Zugleich sehe ich im derzeitigen Gemeinnützigkeitsgrundsatz - etwa in der Abgabenordnung - den Konflikt, daß jedwedes wirtschaftliches Handeln in unserer Gesellschaft vom Markt bestimmt wird und deshalb nicht ohne Eintritt in den Wettbewerb gegen andere, erwerbswirtschaftliche Geschäftsbetriebe möglich ist. Hier ist unsererseits Handlungsbedarf.

  4. Der Personenkreis in den Werkstätten und der in den Integrationsbetrieben ist verschieden. Ich bin der festen Überzeugung, daß jeder Werkstattbeschäftigter, der die erwerbswirtschaftsähnlichen Leistungsanforderungen eines Integrationsbetriebes erfüllen kann, keinen Anspruch mehr auf Werkstattleistungen hat. Die Werkstatt hat dann ihre Aufgabe der Förderung von Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit erfüllt und muß alles daransetzen, den Übergang zu ermöglichen.

  5. Das gilt in gleicher Weise für den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Es ist unsere Pflicht, nicht nur den Übergang durch geeignete Maßnahmen zu fördern, sondern auch die Arbeitsverwaltung und die Integrationsämter zu fordern, sich für diesen Übergang auch verantwortlich zu fühlen und ihrerseits alle dafür erforderlichen Leistungen zu erbringen.

  6. Ich teile nicht die Auffassung der Bundesregierung über den von ihr veröffentlichten Platzbedarf in Werkstätten. Im Bericht der Bundesregierung ist die ursprüngliche Zahl von 38.000 inzwischen auf 28.000 reduziert worden. Alle Fachleute, angefangen beim vom BMGS beauftragten Institut „Con­sens“ bis hin zu den Vertretern der überörtlichen Sozialhilfe, sehen einen größeren Bedarf an Werkstattplätzen. Dafür sprechen u.a. objektive Faktoren wie die Alterspyramide in den Werkstätten, die Zunahme an Kindern mit Anspruch auf Sonderschulleistungen, die Entwicklung der Anzahl von Sonderschülern nach Einschätzung der Kultusministerkonferenz und - auch inzwischen ein objektiver Faktor - die Anforderungen der Erwerbswirtschaft an die heute und morgen benötigten Arbeitskräfte.

  7. Deshalb trete ich für eine langfristige, seriöse und stabile Förderung der Werkstätten ein und halte es für richtig, wenn wir uns auf einen Bedarf von wenigstens 38.000 neuen Plätzen bis zum Jahr 2010 einstellen. Das hat zur Konsequenz, daß Werkstattneubauten auch zukünftig erforderlich sind. Aber es verpflichtet uns auch, neue Möglichkeiten der Schaffung von Werkstattplätzen zu suchen. Deshalb und aus meinen Erfahrungen im Wohn- und Krankenhausbereich bin ich dafür, auch Mietprojekte aus öffentlichen Mitteln zu fördern und dafür stabile rechtliche Bedingungen zu schaffen.

  8. Die Weiterentwicklung der Werkstätten halte ich für unverzichtbar. Die Landschaft von Leistungsanbietern für Menschen mit Behinderungen hat sich in den letzten zehn Jahren so gewandelt, daß der immer noch von zahlreichen Werkstattträgern vertretene Grundsatz überprüft werden muß, Werkstätten sollten vor allem anderen handwerkliche oder industriell strukturierte mittelständische Betriebe sein. Dafür müssen wir den Standort der Werkstätten gar nicht neu bestimmen, sondern nur die rechtlichen Anforderungen angemessen erfüllen. Danach sind die Werkstätten zuerst verpflichtet, ihrerseits Leistungen an die Werkstattbeschäftigten zu erbringen. Die wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung ist nicht nur ein Aufnahmekriterium, sondern steht im Pflichtenbuch des Werkstattträgers: Sie zu fördern, zu entfalten und zu stabilisieren und dabei die Persönlichkeit des Menschen weiter zu entwickeln, ist der Werkstattauftrag. Deshalb gehören in der Werkstatt Arbeit, Bildung, Förderung und Assistenz im Sinne der §9 und 10 der Werkstättenverordnung zusammen. Ihr Anteil ändert sich bei jedem Beschäftigten im Verlauf seiner Werkstattzugehörigkeit. Fällt einer dieser Faktoren fort, ist die Werkstatt nicht mehr die geeignete Einrichtung.

  9. Ich halte es für notwendig, daß wir uns darüber einig werden, auch zukünftig nicht auf die Weiterentwicklung des Werkstättennetzes und des Leistungsangebotes der Werkstätten zu verzichten. Vielmehr müssen wir gerade den Personenkreis in den Werkstätten vor sozialen Einschnitten bewahren und ihn in die Verteidigung des Erreichten einbeziehen. Es ist eine Frage von Strategie und Taktik, welche Anforderungen wir zu welcher Zeit an den Staat - und nicht nur an den Gesetzgeber! - stellen. Keine Frage dagegen darf es sein, daß wir Leistungskürzungen in substantieller Hinsicht nicht zustimmen. Ich kann mir vorstellen, mit der Politik zu Vereinbarungen zu kommen, die zu Einsparungen führen. Das setzt auf Seiten der Politik Offenheit und die Bereitschaft voraus, eingegangene Vereinbarungen auch einzuhalten. Das BSHG ist in dieser Hinsicht ein abschreckendes Beispiel. Dennoch halte ich es für richtig, wenn unsere Bundesarbeitsgemeinschaft gemeinsam mit ihren Mitgliedern um höhere Effizienz der Werkstattleistungen ringt, nach Optimierungen sucht - zum Beispiel durch Kooperationen oder auch Fusionen - und Einsparpotentiale aufdeckt. Ich sage es mit Gelassenheit, daß dazu auch Büroausstattungen oder Dienstwagengröße gehören können.

  10. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß unsere Bundesarbeitsgemeinschaft nur so erfolgreich sein kann, wie uns die Spitzenverbände zur Seite stehen. Deshalb verteidige ich mit Nachdruck unser bundesdeutsches Verbandssystem und wehre mit meinen Möglichkeiten jeden Angriff darauf ab. Das gilt ähnlich für die Fachverbände. Ich fühle mich durch die Erklärungen der vier Fachverbände in meiner Politik unterstützt, die erst kürzlich der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfe vermittelt haben, welche Anforderungen auf die Sozialpolitik und die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen zukommen.



[1] externer Link Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Kap. 5, Abschnitt 2, Eine gerechte Vermögensverteilung schaffen, Ziff. 220, Seite 87


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